Wahlshausen und die Eisenbahn
Nachdem Kurhessen 1866 ein Teil des preußischen Staates wurde, war Preußen daran interessiert, eine Durchgangsbahn vom Ruhrgebiet nach Thüringen zu errichten. Die preußische Regierung wollte mit einer Bahnlinie Altenhundem – Marburg – Alsfeld – Hersfeld – Gerstungen vorhandene Strecken abkürzen und die früheren kurhessischen Gebiete verkehrstechnisch besser erschließen.
Anfang der 90er Jahrenahm das Hersfeld-Alsfelder Komitee Kontakt zu den um 1890 gegründeten Bahnkomitees in Neukirchen und Oberaula auf. Beide Komitees forderten mit Nachdruck eine Bahnlinie durch die Schwalm in das Notstandsgebiet im Knüllgebirge. Dort lagerten die wertvollen Bodenschätze wie Basalt, Kalk, Sand und Holz, die auf ihre industrielle Ausbeutung warteten und somit vielen Menschen einen Arbeitsplatz geboten hätten.
Unter der Führung des bekannten Forstmeisters Hugo Borgmann wurden Petitionen bei der Regionalregierung in Kassel eingereicht. Große Unterstützung fand er in dem Abgeordneten von Baumbach, dessen Familie ebenfalls große Forstflächen im Aulatal besaß.
Nach vielen, auch heftigen Debatten über die endgültige Streckenführung kam es in den Jahren 1893-1897 zu den ersten Vermessungs- -und Planungsarbeiten für die neue Strecke Hersfeld Treysa.
In einem Gesetzesbeschluss vom 20.Mai 1902 wurde die preußische Staatsregierung ermächtigt 5.685.000Mark für den au der Eisenbahnlinie Hersfeld-Treysa bereitgestellt. Die im Bau befindliche Teilstrecke Hersfeld – Oberaula wies Ende 1905 einen beachtlichen Baufortschritt auf. In einigen Streckenabschnitten fehlten nur noch die Gleisanlagen für den Abschluss aller Arbeiten.
Benötigte Flächen mussten oftmals durch mühselige Verhandlungen von privaten Eigentümern erworben werden, da diese sich die Grund- oder Flurstücke gut bezahlen lassen wollten. Hier zahlte der preußische Staat gelegentlich großzügige Summen, um juristischen Auseinandersetzungen mit den Grundstückseigentümern aus dem Wege zu gehen und Zeit zu gewinnen. Dadurch waren die bewilligten Finanz-mittel für den Grunderwerb bald erschöpft und mussten durch den Preußischen Landtag aufgestockt werden.
Wahlshausen blieb von Anfang an bei der Planung für Haltestellen außen vor, da es sehr dicht am Bahnhof Oberaula liegt und von dort mitversorgt werden sollte.
Vermessungsgruppe aus der topografischen Abteilung des großen Generalstabes im Jahre 1903 |
Am Ende dieser schweißtreibenden Arbeit stand der Eröffnungstermin der ersten Teilstrecke Hersfeld – Oberaula am 01.05.1906 fest
Streckenführung der ersten Teilstrecke |
Der erste Zug zwischen Hersfeld und Oberaula
Am 1. Mai 1906 konnte die 25,7 km lange Teilstrecke Hersfeld – Oberaula mit einem langen Personenzug, der von zwei Dampflokomotiven gezogen wurde, eröffnet werden. In jedem festlich geschmückten Bahnhof begrüßte der örtliche Bürgermeister die Fahrgäste mit einer Ansprache. Die Schuljugend trug unter der Leitung des Kantors oder des Lehrers mehrere Lieder vor, und zahlreiche Mitglieder der Kriegervereine umrahmten auf fast jeder Station die Feierlichkeiten.
Unterwegs grüßte die Landbevölkerung den Zug begeistert mit „Hurra-Rufen“ und Tücherschwenken. Die Lokführer erwiderten die Grüße mit den Lokomotivpfeifen. Auch in den Ortschaften, die keine Haltestelle erhalten hatten, freuten sich die Menschen über die Eröffnung der neuen Bahnstrecke. Für die gesamte Bevölkerung im Fulda- und Aulatal war dieser Tag ein großer Festtag! Die Wahlshäuser hatten sich unter der Eisenbahnbrücke versammelt und sind dann nach Oberaula gelaufen.
Die Ankunft des ersten Zuges im Bahnhof Oberaula am 01.Mai 1906 (Archiv Stämmler) |
Hugo Borgmann erlebte die Eröffnung der Eisenbahnlinie leider nicht mehr. Er verstarb am 3.Januar 1906, 4Monate vor der Eröffnung in Oberaula.
Stolz wurde auf einer zweiten Bildkarte der Fahrplan präsentiert (Archiv Stämmler) |
Am Eröffnungstag war im ganzen Aulatal Feststimmung. Es wurden Kuchen gebacken und es war an dem Tag schulfrei. Chöre hatten sich entlang der Strecke aufgestellt um mit ihrem Gesang die Eisenbahn zu begrüßen. Die gesamte Bevölkerung war auf den Beinen.
In der Hersfelder Zeitung wurde die Kleiderordnung am Samstag, den 28. April bekanntgegeben:
„…Auf Anfrage ist uns mitgeteilt worden, daß man sich bezüglich des Anzugs bei den Feierlichkeiten zur Eröffnung der Eisenbahnlinie Hersfeld-Oberaula auf Gehrock verständigt hat (ohne Zylinder).“
In Oberaula fand schließlich die Abschlusskundgebung statt. Zwei Kapellen, aus Oberaula und Ottrau spielten abwechselnd auf
Der Bahnhof Oberaula, unmittelbar vor der Streckeneröffnung fotografiert. Eine Girlande hängt über den Fenstern der Bahnhofsgaststätte, während am Güterschuppen die Maler mit den letzten Arbeiten beschäftigt sind. Archiv B. Schneider |
Zug auf dem Weg nach Hersfeld – auf der Wahlshäuser Brücke |
Bericht aus der Hersfelder Zeitung zum 01.Mai 1906 |
Mit der Aufnahme des Regelzugverkehrs wurde der Postdienst durch Postkutschen eingestellt. Magnus Stein, der letzte Postillion, Großvater von Karl Stein, blies beim Abschied aus Oberaula auf seinem Posthorn zwei Lieder. Muss i denn zum Städtele hinaus und als er aus dem Ort hinausfuhr noch: Oh, du lieber Augustin, alles ist hin.
Aus den Ziegenhainer Nachrichten |
Am 31.Juli 1907 wurde das zweite Teilstück, Treysa-Oberaula fertig gestellt und in Betrieb genommen. Der Festakt war ähnlich dem der ersten Streckeneinweihung.
Nicht überall war die neue Bahn sofort willkommen
Einige Zeitgenossen hatten Vorbehalte gegenüber der neuen Bahn. Als Begründung wurden folgende Gründe genannt:
- Die Sparsamkeit der Landbewohner. Trotz der zuversichtlichen Eröffnungsreden hätten wohl zahlreiche ältere Mitbürger der neuen Technik gegenüber Vorbehalte gehabt. Einige Bauern, die harte Hunger- und Notjahre in ihrer Jugendzeit erlebt hatten, wären nicht bereit gewesen, (Zitat) „der Eisenbahn ihren sauer verdienten Groschen in den Rachen zu werfen.“
- Die Eisenbahn beeinträchtigte auch den Lebensrhythmus der Menschen, denn der Tagesablauf musste sich sehr oft nach den Fahrplänen richten.
- Viele Menschen erfuhren die Bedeutung des Wortes „Pünktlichkeit“ neu. Wer damit ein Problem hatte, sah nur noch die Schlusslaternen des Zuges! Auch wurde die neue Eisenbahntechnik als unpersönlich und undurchsichtig empfunden. Zudem vermissten einige Menschen die vertraute Übersichtlichkeit der Postkutschen.
- Reisende lernten durch die Bahnbenutzung das stolze und korrekte preußische Beamtentum erst richtig kennen. Es war eine Welt für sich! Einige Zeitgenossen wollten auf die Eisenbahn ganz und gar verzichten, da sie bisher auf „Schuster´s Rappen“ gut vorwärts gekommen waren. Warum sollte sich das nun ändern?
Ankündigung in der Ziegenhainer Zeitung vom 20.Juli 1907
Trotz verschiedener Vorbehalte einiger Zeitgenossen ließ sich eine Tatsache nicht leugnen: Die Landbevölkerung schätzte die neuen Reisemöglichkeiten durchaus und wurde durch das neue Verkehrsmittel mobiler. Nun war es möglich, Arbeit auch bei weit entfernt liegenden Arbeitsstellen anzunehmen. So mancher verließ gar mit Hilfe der Eisenbahn erstmals den heimatlichen Landkreis und lernte neue Landstriche im Deutschen Reich kennen!
Aber auch die gehandelten Warenmengen erhöhten sich beträchtlich und die Absatzgebiete vergrößerten sich. Die Städte Treysa, Ziegenhain und Hersfeld rückten näher an die Landbevölkerung heran. Zahlreiche Bauersfrauen und Mägde fuhren früh morgens mit der Bahn auf die dortigen Märkte, boten ihre Erzeugnisse an, kauften ein oder erledigten verschiedene Amtsgeschäfte.
Dauerte ein Fußweg von Wahlshausen nach Hersfeld vor der Eisenbahn noch 4 Stunden, so war er nun auf eine gute Stunde zusammengeschrumpft.
Die wirtschaftliche Bedeutung des Bahnhofs für Wahlshausen
Im Bahnhof Oberaula war die Beschäftigtenzahl beachtlich. Bis zur Auflösung der Bahnmeisterei im Jahre 1966 fanden zeitweise bis zu 120 Personen (das Fahrpersonal mit eingerechnet) ihren Verdienst. Wahlshausen entwickelte sich zu einer kleinen Eisenbahnerwohnstätte.
Die neue Bahn wurde von Anfang an sehr gut angenommen. So konnten die Stationen zwischen Oberaula und Hersfeld bereits nach 6 Wochen Einnahmen in Höhe von 14.000Mark vorweisen.
Der Bahnhof Oberaula war von Beginn an ein Zugbildungsbahnhof und entwickelte sich dadurch zu einem Betriebsmittelpunkt.
Die Königlich Preußische Eisenbahnverwaltung richtete die Lokstation frühzeitig ein, weil sich bereits während der Streckenplanung abzeichnete, dass sich in Oberaula die Verkehrsströme nach Hersfeld und Treysa teilen würden. Pendlerzüge in beide Richtungen begannen oder endeten hier bereits im Sommer 1907.
Die Lokstation (bis 1963) bestand aus einem Wasserturm, drei Wasserkränen, einem dreiständigen Lokschuppen mit Kohlebansen und Entschlackungsgruben, einer Pumpstation, einem Ölkeller, einem Benzinlager, einem Holzschuppen und einer Übernachtungsmöglichkeit für das Betriebspersonal. Somit war an technischen Anlagen alles nötige vorhanden, um die Lok- und Zugpersonale in den Betriebspausen oder Freischichten unterzubringen sowie die Lokomotiven zu restaurieren oder zu warten.
Die Bürozimmer der Bahnmeisterei befanden sich in einem höher gelegenen Arbeits- und Wohngebäude, das aufgrund seiner malerischen Lage auch heute noch im Volksmund als „Burg“ bezeichnet wird. Die Arbeitsräume der Signal- und Nachrichtenmeisterei sowie der Unterkunftsraum der Bahnmeisterei-Rotte waren in einem kleinen Nebengebäude des Empfangsgebäudes untergebracht.
Das Bahnhofsgebäude mit Güterschuppen liegt am Rande der Ortslage Oberaula. Da jedoch die Lokstation mit dem Wasserturm und den andern Betriebsanlagen auf der Wahlshäuser Gemarkung befanden, kamen die findigen Wahlshäuser darauf, dass ihnen ein Teil der beachtlichen Gewerbesteuereinnahmen aus dem Bahnhof Oberaula zustehen. Die Wahlshäuser beriefen sich auf §47 des Kommunalabgabengesetzes vom 14.Juli 1893. Danach würde die Verteilung des steuerlichen Reineinkommens zum einen durch die Betrachtung der Flächenverhältnisse und der vorhandenen Betriebseinrichtungen und zum andern aus der Betrachtung der für den Betrieb notwendigen Kommunallasten erfolgen.
Aus dem Flächenverhältnis ergibt sich eine Aufteilung von 63,5% zu 36,5% zu Gunsten von Oberaula.
Bei der Berechnung der Kommunallasten wurden zum einen die Anzahl der Bediensteten und derer schulpflichtigen Kinder herangezogen.
Die Anzahl der Bediensteten wurden mit 39 aus Oberaula und 8 aus Wahlshausen für die Berechnung herangezogen. Als deren schulpflichtigen Kindern waren damals in Oberaula 20 und in Wahlshausen5 gemeldet. Außerdem wurde das betreiben der elektrischen Beleuchtung hinzu gezogen.
In der abschließenden Begründung heißt es:
„…Es dürfte daher angemessen sein, den sich nach der Anzahl der in beiden Gemeinden wohnenden Bediensteten ergebenen Prozentsatz für Oberaula von 83% auf etwa 87% zu erhöhen und hiernach von der zweiten, nach Maßgabe der Kommunallasten zu verteilenden Hälfte des Reinertrags der Gemeinde Oberaula 87 und der Gemeinde Wahlshausen 13% zu überweisen.
Hiernach würde das Reineinkommen des Bahnhofs Oberaula nach Flächenverhältnis und Kommunallast zu verteilen sein:
Auf Oberaula rd. 75%, auf Wahlshausen rd.25%.
Mit diesen Werten konnte Wahlshausen mehr als zufrieden sein. Einen besseren Steuerzahler hatte Wahlshausen bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gehabt.
Gleisplan der Lokstation Oberaula mit Wasserturm, Übernachtungsgebäude und Pumpstation (Archiv J. Larson) |
Der Oberaulaer (Wahlshäuser)Wasserturm
stand oberhalb des Lokschuppens und diente zur Versorgung der Bahnanlagen und der Lokomotiven. Diese erhielten das kostbare Nass über drei Wasserkräne. Zwei Wasserkräne befanden sich zwischen Bahnsteig 1 und 2, der dritte im Bereich Kohlebansen/Entschlackungsgrube.
Aber auch das Bahnhofsgebäude, dessen Anlagen, die Übernachtungsunterkunft, der dreiständige Lokschuppen und das hochgelegene Verwaltungsgebäude („Burg“) wurden aus diesem Wasserturm versorgt. Dieser war ca. 16 m hoch, im unteren Bereich mit gelblichen Klinkersteinen gemauert und im Kesselbereich verputzt, besaß einen über 20 m tiefen Brunnen und hatte ein Fassungsvermögen von 220 m3. Die Förderleistung der benachbarten Pumpstation betrug 15 m3 pro Stunde. Für diese war ein Bahnarbeiter verantwortlich, der die Pumpe stündlich zu beaufsichtigen und zu warten hatte. Seit 1967 benötigte die Deutsche Bundesbahn den Wasserbehälter aufgrund des überwiegenden Einsatzes von Diesellokomotiven nur noch in geringem Umfang. Schließlich sollte er mit dem dazugehörigen Grundstück an einen Privatmann verkauft werden, wurde jedoch 1974 auf Betreiben der Bundesbahn unerwartet gesprengt. Man darf davon ausgehen, dass der Turm noch heute stehen würde, wenn die Denkmalschutzbehörden rechtzeitig auf ihn aufmerksam gemacht worden wären.
Das Ende der Eisenbahn
Der Bruch des Staudammes in der Ferienanlage „Seepark Kirchheim“
sorgte am 22. August 1977 dafür, dass der Bahndamm zwischen dem Bahnhof Kirchheim und dem Haltepunkt Kleba durch etwa 500.000 m3 Wasser und Schlamm auf knapp 20 Meter Länge komplett zerstört wurde. Es blieb nur das in der Luft hängende Gleis übrig, von dem Bahndamm war an dieser Stelle nichts mehr zu sehen! Dieses Bild, das bundesweit in den Tageszeitungen veröffentlicht wurde, konnte sowohl von den Eisenbahnern als auch der Bevölkerung als „böses Omen“ für eine dauernde Betriebseinstellung gedeutet werden. Es war ein offenes Geheimnis, dass die BD Frankfurt/M. seit geraumer Zeit versuchte, den defizitären Personenverkehr einzustellen.
Die Flutkatastrophe hinterließ im Ibra- und Aulatal eine Spur von Tod und Verwüstung. Im Ibratal wurden Wohnhäuser und Stallungen stark in Mitleidenschaft gezogen, Tiere ertranken oder wurden vom Wasser mitgerissen. Menschenleben waren glücklicherweise nicht zu beklagen. Zwischen dem Bahnübergang der Kreisstraße 32 und dem Bahndamm an der Eichmühle kam die Flutwelle in einer Senke zum Stehen und staute sich auf. Der Bahndamm hielt die Wassermassen nur kurze Zeit auf. Ein Teilstück gab durch Unterspülungen und den angestauten Wasserdruck nach. Schließlich sackte der Damm auf einer Länge von 20 Metern in sich zusammen und wurde mitgerissen. Eine fast drei Meter hohe Schlamm- und Flutwelle bahnte sich daraufhin ihren Weg durch das untere Aulatal bis nach Niederaula. Die zwischen Kirchheim und Gershausen gelegene Eichmühle wurde dabei so schwer in Mitleidenschaft gezogen, dass sie 1983 abgerissen wurde.
Ab Treysa wurden zwar weiterhin die Züge nach Oberaula gefahren, als ob dieses Ereignis nicht stattgefunden hätte. Wer jedoch weiter in Richtung Bad Hersfeld reisen wollte, musste am Bahnhof Oberaula in einen Bahnbus umsteigen, der die Reisenden zum Bahnhof Niederaula brachte.
„Bitte umsteigen!“ Reisende aus Richtung Treysa steigen in den bereitstehenden Bahnbus Richtung Niederaula um. |
Unterwegs bestand die Möglichkeit, an den Bushaltestellen in Wahlshausen, Gersdorf, Frielingen, Heddersdorf, Kirchheim und Kleba, oder – je nach Buslinie – Hattenbach zuzusteigen. Im Bahnhof Niederaula angekommen, stand ein Personenzug oder ein Triebwagen nach Bad Hersfeld bereit. Hier mussten alle Fahrgäste erneut umsteigen. Das gleiche galt auch für die Gegenrichtung.
Zunächst wurden die Fahrgäste mit einem überreichlichen Angebot an fahrplanmäßigen Bussen verwöhnt. Es war auch angenehm, nun Mitten im Zielort anzukommen.
Auf Grund von Fahrgastzählungen wurde der Fahrplan jedoch immer mehr ausgedünnt, denn der steigende Individualverkehr mit dem eigenen PKW hatte seine Blütezeit erreicht.
Letztendlich führte dies alles dazu, dass der Schienenverkehr im Jahr 1984 auf der gesamten Strecke Treysa –Bad Hersfeld eingestellt wurde.
Ein Übergabe-Güterzug gerät außer Kontrolle
Im November 1969 ereignete sich ein Vorfall, der den Eisenbahnern und Bewohnern des oberen Aulatales in besonderer Erinnerung geblieben ist.
Im Weißenborner Schotterwerk wurde ein beladener vierachsiger Talbot-Selbstent-ladewagen mit einer Kleinlok (Köf) abgeholt. Der Kleinlokführer kuppelte den Wagen an und befuhr anschließend die Steigung zum Haltepunkt Olberode. Betriebsbedingt hielt er mit dem Übergabezug in Olberode auf einem Nebengleis an, damit ein aus Treysa kommender Triebwagenzug nach Oberaula passieren konnte. Nachdem der Triebwagen den Bahnhof Oberaula erreicht hatte, bekam der Übergabezug in Olberode Ausfahrt.
Bei der anschließenden Weiterfahrt erhöhte sich im Streckengefälle zwischen Olberode und Oberaula zunehmend die Geschwindigkeit. Der Kleinlokführer bemerkte dies und bremste. Doch die Bremswirkung der Köf war wegen der ausgefallenen Bremse des Selbstentladewagens gleich Null. Dieser hatte zusammen mit der Ladung ein Gewicht von etwa 35 Tonnen und drückte dementsprechend gewaltig die Kleindiesellok in Richtung Oberaula. Obwohl der Kleinlokführer die Köf stark abbremste, wurde der Zug immer schneller. Hierauf gab er wiederholt mit drei kurzen Pfiffen das Signal „Zug in Not“ ab, damit sich die Verkehrsteilnehmer an den Bahnübergängen und die Betriebsbeamten des Bahnhofs Oberaula auf die Situation einstellen und in Sicherheit bringen konnten. Der Güterzug soll bei dieser Fahrt nach Augenzeugenberichten um die 60 – 70 km/h erreicht haben. Wenn man bedenkt, dass die Kleinlok für nur max. 45 km/h ausgelegt war, glich es einem Wunder, dass der Zug in den Kurven nicht aus den Schienen gesprungen war!
Zur gleichen Zeit kamen Bahnarbeiter mit einem Kleinwagen (Kl)* aus Frielingen zurück und hielten am Oberaulaer Einfahrsignal an, um ihre Einfahrt in den Bahnhof telefonisch anzumelden. Sie hörten ebenfalls das Notsignal des Zuges und räumten umgehend den Gleisbereich.
Der Kleinlokführer rutschte währenddessen mit seiner Lok und dem angehängten Wagen pfeifend, quietschend und funkensprühend durch den Bahnhof Oberaula, wobei die Kleinlok mit der vorderen Achse regelrechte „Bocksprünge“ gemacht haben soll.
Kaum hatten sich die Bahnarbeiter entfernt, kam auch schon der Zug angefahren. Er erfasste den im Gleis stehenden roten Kleinwagen, schob ihn ein Stück vor sich her, zerstörte ihn komplett und schleuderte diesen schließlich aus dem Gleiskörper in die Hecken. Der Kleinlokführer blieb bei diesem enormen Aufprall unverletzt!
Damit war diese Fahrt aber noch nicht zu Ende, denn der Zusammenstoß bremste den weiter dahinrutschenden Zug nur geringfügig ab. Die Lok wurde durch das hohe Gewicht des Talbotwagens weiter bis in das untere Aulatal gedrückt. Nach fortgesetztem Bremsen kam der Zug endlich bei Frielingen zum Stehen. Die Bremsklötze der Kleinlok sollen glutrot, das Gesicht des Kleinlokführers dagegen „kreideweiß“ gewesen sein…
* Bei dem Kleinwagen handelte es sich um einen für den Schienenbetrieb umgebauten VW-Bus.